Zwangsarbeiter

Civilia Camille ist Belgier, geb. am 7. 11. 1923. Er arbeitete in seiner Heimat als Drucker in einem Betrieb mit 12 Mitarbeitern. Im Frühjahr 1943 tauchten die Nazis in der Druckerei auf und nahmen zwei der Mitarbeiter, darunter den 20-jährigen Camille als Zwangsarbeiter mit.

Civilia Camille (93) beim Gespräch im Jänner 2016 in Sulz

Mit vielen anderen wurde er nach Schruns verfrachtet und von dort weiter zur Illwerke-Baustelle auf der Bielerhöhe. Camille wurde schnell bewusst, dass die Arbeit dort mörderisch ist. Von einem Kollegen bekam er den Tipp zum Arbeitsuntauglich zu werden: Zigaretten und viel Salz essen, dies verursache starkes Herzflimmern. Gesagt und getan. Er wurde von mehreren Ärzten untersucht, für diese schwere Arbeit für untauglich erklärt. Zur Heimfahrt nach Belgien reichte es aber nicht, er wurde der Firma Fries in Sulz als (Zwangs-)Arbeiter zugeteilt. Untergebracht wurde er im Armenhaus (heute Raiffeisenbank). Relativ bald kam er zur Firma Bawart, um Kisten zu fertigen, welche für den Transport der dort erzeugten kriegswichtigen Munition dringend gebraucht wurden.

Nach einiger Zeit konnte er einen Heimaturlaub in Belgien antreten. Sein Vater verheiratete ihn unverzüglich mit einer Belgierin, in der (vergeblichen) Hoffnung, sein Sohn könne in seiner Heimat bleiben. Doch die Nazis handelten anders: Er wurde mit vielen anderen in Richtung Hamburg und Berlin verfrachtet, was seiner Ansicht nach einem Todesurteil gleich kam.

Der Transportzug wurde bei Aachen bombardiert und stark beschädigt. Camille überlebte das Bombardement, meldete sich bei der örtlichen Behörde. Als er nach seinen Papieren gefragt wurde, sagte er diese seien ihm im Bombenhagel abhandengekommen. Die Frage, wohin seine Reise gehen hätte sollen, sagte er kurz entschlossen Sulz. Dort fertigte er bis gegen Kriegsende bei der Firma Bawart in Sulz Holzkisten für den Transport kriegswichtiger Munition.

In Sulz habe er sich recht wohl gefühlt, von den Unbillen der Nazi-Herrschaft sei (mit Ausnahmen) nicht sehr viel zu verspüren gewesen. Als Zwangsarbeiter konnte er mit dem Zug zwischen Bregenz und Bludenz pendeln. Damit ging es ihm deutlich besser als vier französischen Kriegsgefangenen, welche in Sulz arbeiteten, diese durften den Ort nicht verlassen.

Mit der Bevölkerung hatte er gute soziale Kontakte. Sicher nicht zuletzt wegen seines offenen und umgänglichen Wesens. Im Gasthof Löwen war er als Klavierspieler sehr willkommen. Auch als Tänzer war er sehr gefragt.

Camille war in die Suldnerin Emilie Lässer unsterblich verliebt. Emilie Lässer, eine Bawart-Schwester, hatte bei der Bombardierung in Feldkirch am 1. Oktober 1943 ihren Mann und zwei ihrer Kinder verloren und wurde selbst verletzt. Als Camille etliche Jahre nach Kriegsende wieder nach Sulz kam, musste er feststellen, dass Emilie drei Monate zuvor, im April 2007, im Alter von 95 Jahren verstorben sei.

Als ich ihm Beispiele erwähnte, wo Kontakte zwischen „Fremden“ und „deutschen Frauen“ in anderen Orten Vorarlbergs, mit harten Strafen geahndet wurden, war Camille sehr verwundert. Er erinnerte sich aber dann doch: eine kleine Gruppe (er und zwei Mädchen waren mit dabei) machte einen Ausflug nach Furx. Anderntags habe dies die Mutter der beiden Mädchen der Polizeibehörde gemeldet.

Im 2. Gespräch sagte Camille, dass er auch mit einem Polizisten des Postens Sulz befreundet war, sodass die Meldung, er sei mit 2 Mädchen aus Sulz (unerlaubt) auf den Hohen Freschen (früher sprach er von Furx) gewandert sei, nicht weiter verfolgt wurde.

Vom Bombenabwurf auf das Feldkircher Schulzentrum und Reservelazarett am 1. Oktober 1943, mit 210 Toten und über 100 Schwerverletzten, habe er erst kurze Zeit später erfahren. Emilie Lässer (Schwester von Bawart) wurde bei diesem Bombenangriff schwer verletzt, ihr Mann Josef und ihre beiden Kinder Herta und Hansfriedl getötet.

Camille berichtete, wie ein amerikanischer Bomber beim Rückflug von Friedrichshafen über dem Rhein abstürzte. 4 Besatzungsmitglieder konnten sich mit Fallschirmen retten, 3 von ihnen landeten in der sicheren Schweiz, einer leider auf der anderen Seite des Rheins und sei nach Röthis gebracht worden.

Camille erwähnte auch den Namen Jean Mariani, einem sehr guten Freund von ihm. Jean Mariani, ein französischer Sergeant, seit 1940 in deutscher Kriegsgefangenschaft, war im Reservelazarett Valduna für die Hauselektrik verantwortlich.

Über seine Freundin (und spätere Frau), der Krankenschwester Maria Jenny, kam Mariani in Kontakt mit der „Österreichischen demokratischen Widerstandsbewegung“. Diese Verbindung von einem französischen Kriegsgefangenen und aufrechten Rankweilern, wie Alfons Branner und Franz Kielwein, ermöglichte es der kleinen Gruppe frühzeitig mit dem Stab der auf Vorarlberg vorrückenden französischen Truppen in Überlingen – über das Telefonnetz der Reichsbahn – Kontakt aufzunehmen und wiederholt aktuelle Lageberichte zu übermitteln. Dieser Verbindung ist zu verdanken, dass Rankweil weitestgehend von Schäden in den letzten Kriegstagen verschont blieb, mit Ausnahme der Sprengung der Frutzbrücken durch die SS.          mehr dazu »

Gegen Kriegsende hätten die Nationalsozialisten die Zwangsarbeiter zur Errichtung von Schutzgräben eingesetzt. Doch Camille hatte wieder mal Glück: Sein Chef Bawart habe NEIN gesagt, er brauche ihn unbedingt um Kisten zu fertigen, welche für den Transport kriegswichtiger Munition dringend gebraucht würden.

Kurz danach habe Bawart zu Camille gesagt: jetzt musst du nach Hause! Von zwei Frauen (Herta Lässer? und ?) wurde Camille zur Grenze nach Liechtenstein gebracht. Die Frauen hätten die Grenzer bezirzt und Camille konnte nach Lichtenstein und weiter in die Schweiz. Gemeinsam mit andern wurde er in einem Zug nach Genf in ein Hotel gebracht. Über Annecy (Nächtigung) gelangten die Heimkehrer mit der Eisenbahn nach Paris. Drei oder vier Tage wurde er dort ausführlich befragt und registriert, bevor er mit dem Zug nach Brüssel kam.

Zuerst arbeitete er zwei Jahre in seinem erlernten Beruf als Drucker, dann war er 36 Jahre bei der Polizei beschäftigt, zuletzt als Polizeichef von Brüssel West.

Auch heute noch betont er, dass er in seiner Zeit in Sulz Freundschaften fürs Leben gefunden habe. Seit Jahren kommt Camille immer wieder gerne nach Sulz, nimmt Kontakt mit Bekannten aus früheren Zeiten auf, berichtet in Schulen über seine Erinnerungen als Zwangsarbeiter. Vor kurzem (im November 2014) hat er seinen 91. Geburtstag im „Rössle“ in Röthis gefeiert. Gemeinsam mit fast 30 Bekannten von früher, bzw. deren Nachkommen.


Im zweiten Gespräch mit Camille sagte er, mit Jean Mariani habe er sich häufig (fast täglich) getroffen. Obwohl die beiden gute Freunde waren, habe er aber über die Kontakte Marianis zur Widerstandsbewegung nichts gewusst.

Initiator Jean Mariani (1. von links), 2. vl. Peppino aus Nizza, 3. vl. Jameto (Zwangsarbeiter Bäckerei in Röthis), 2. von rechts Claudios (Architekt, später Opernsänger in St. Atyem ?)

Mariani habe die Gruppe Folies  Sulzoise1  aufgebaut und geleitet.
Mit dabei waren  Zwangsarbeiter und Gefangene aus Rankweil (Valduna), Sulz (Fries und Bawart), Röthis (Bäckerei) sowie einer Seifenfabrik  (zwischen Feldkirch und Bludenz, Brederis?)
Treffpunkt war das Armenhaus Sulz (jetzt Sparkasse) wo die Zwangsarbeiter (von Sulz) untergebracht waren. Hier soll auch ein reger Austausch von Brot (Bäckerei in Röthis) gegen Seife (Zwangsarbeiter aus der Seifenfabrik) stattgefunden haben.
Gegenüber dem Armenhaus war damals ein Friseur.  Mit diesem habe Civilia gelegentlich auch Seife gegen Fleisch getauscht.
Die Gruppe Folies Sulzoise  (FS auf dem Transparent, auf Karton von Fries)  habe auch in der Kirche Sulz gesungen (ohne Publikum).

Folies1  =  Torheiten, Verrücktheit, also etwa „Verrücktes Sulz“

 


Notizen von Gesprächen am 10.11.2014 und 21. Jänner 2016 mit Civilia Camille und Brigitte Maier in deren Wohnung in Sulz