Böckles Olga

Olga Porchum – heute „Böckles Olga“ genannt – ist 1923 im kleinen ukrainischen Dorf Hczeke geboren. Als siebzehnjähriges Mädchen wurde Olga im Mai 1942 aus Hczeke nach Vorarlberg deportiert.

Die Bergbauernfamilie Vogt in Buchebrunnen nahm sie freundlich auf. Nach wenigen Monaten musste sie jedoch die Arbeitsstelle wechseln. In Altenstadt half sie dem achtzigjährigen Gebhard Köchle und dessen Tochter Kathri bei der Führung der kleinen Landwirtschaft.

Bei Kriegsende gab sie an, aus Galizien zu stammen und wurde deshalb nicht nach Rußland abtransportiert. 1947 heirate sie. Dem ersten Besuch in der Ukraine zu Ostern 1992 folgten weitere. Sie hat ihre Lebenserinnerungen, niedergeschrieben, die von Frau Ludescher als »s’Böckles Olga« veröffentlicht wurden.

Ihren Heimatsort beschreibt Olga so:

 „… gab es in dem Dorf Hczeke keinen Strom, keine Kraftverkehrsmittel, nur Menschen lebten dort in der Weise, wie hunderte Jahre zuvor, mit Kühen, Pferden, Hühnern und einem Stück Land, das sie bebauten. Zu Fuß oder mit einem Holzleiterwagen, von Pferden gezogen, erreichten die Menschen, ca. 20 km entfernt, die nächste östlich gelegene Bahnstation Kraseliw“.

Wie viele Ukrainerinnen und Ukrainer wurde Olga von den Nazis als Zwangsarbeiterin rekrutiert und ins „Reich verfrachtet“. In ihren Erinnerungen beschreibt sie den Transport so:

„Mit meinem Bündel verließ ich das Haus und ging zum Pferdewagen. Die Kolonne bewegte sich vollbeladen, Wagen an Wagen. Ich winkte zum Haus zurück, bis es verschwand. Als ich das Dorf, meine Heimat, verließ, war ich achtzehn Jahre alt. Es war ein schöner Maimorgen, die Wagen fuhren bis Krasilow. Bei einer Schule, mit vielen Bäumen ringsum, machten wir Halt. Dort wurden unsere Personalien aufgenommen und wir blieben dort über Nacht. Vom ganzen Bezirk kamen noch viele Wagen zusammen, viele Mädchen und Frauen. [. . .] Am nächsten Tag bewegten sich die Wagen wieder ein Stück außerorts. Dort stand ein langer Lastzug auf einem Nebengeleise mit vielen Waggons. In diesen war ringsum eine Holzbank und auf dem Boden Stroh; oben ein vergittertes Fenster und unter der Schiebetüre stand ein uniformierter Wachmann mit Gewehr. Wir mussten einsteigen, bis der Waggon voll war. Nicht nur auf der Bank, sondern auch am Boden wurde alles besetzt! [. . .] Der Zug setzte sich in Bewegung [. . .] die meisten weinten in sich hinein. Die Waggontüre stand offen, der Soldat saß auf dem Boden, seine Füße hingen hinaus, das Gewehr war zum Abschuss bereit. Nach ein paar Stunden hielt der Zug auf einem Bahnhof. Wir konnten auf den Abort gehen, Wasser trinken und die Flaschen mit frischem Wasser füllen. [. . .] Einmal teilten Rotkreuzschwestern Tee mit Zitrone aus und ein Stück Brot mit Wurst. Sonst verpflegten wir uns mit dem, was wir von zu Hause mitgebracht hatten“.

Dieser menschenunwürdige Transport nach Österreich hat länger als eine Woche gedauert. Erste Station war Wien. Zu den harten Transportbedingungen kam noch die entwürdigende Behandlung im Auffanglager, die ärztliche Untersuchung, Desinfizierung und Entlausung:

„Dort mussten wir aussteigen und in 2er Reihen mit Bewachung weit bis zu einem Holzgebäude laufen. In einem großen Raum waren beidseitig 2stöckige Holzgestelle ohne Matratzen und ohne Decken, das war unser Aufenthalts- und Schlafraum. Am nächsten Tag mussten wir uns in einem anderen Raum ausziehen, unsere Kleider wurden desinfiziert, und in einem anderen Raum mussten wir unter die Dusche, [. . .] es kam nur kaltes Wasser. Dann wurden wir Frauen auf Kopfläuse untersucht. Jenen, die Kopfläuse hatten, wurden die Haare geschoren. [. . .] Alle waren deprimiert und betroffen. Anschließend wurden wir ärztlich untersucht. Einmal bekamen wir Brot und Streichkäse, sonst verpflegten wir uns mit dem, was wir von zu Hause mitgenommen hatten. [. . .] Wir mussten wieder zum Bahnhof und fuhren mit einigen Zwischenaufenthalten mit dem Güterzug nach Wörgl. [. . .] Jede wurde fotografiert, mit diesem Foto wurde der Personalausweis ausgestellt“.

Eine andere Deportierte erinnert sich:

„In Wien sind wir entlaust worden, zwei Tage lang, wir mussten alle Kleider ablegen und die Schuhe auch. [. .. ] Eine ganze Nacht sind wir nackt in einem großen Gebäude geblieben, dann hat man uns die Kleider aus dem zweiten Stock in den Hof hinunter geworfen“.

Für junge Mädchen war die Situation besonders demütigend:

Wir mussten alles ausziehen, die ganze Kleidung wurde ’vergast’, man jagte uns nackend herum, Soldaten liefen herum und klatschten, es war schlimm“.

Frau Olga kam mit einem Transportzug nach Vorarlberg. Im Bahnhof Rankweil wurde sie von Uniformierten mit Hunden erwartet und nach Buchebrunnen zur Bergbauernfamilie Vogt begleitet.

Olga hatte eine landwirtschaftliche Arbeit einer Fabriksarbeit vorgezogen. Offensichtlich eine gute Entscheidung: „Nach zwei bis drei Wochen ging Frau Vogt mit mir zur Schneiderin, diese nähte für mich ein schönes, maßgeschneidertes Kleid. Das habe ich sehr geschätzt und hoch anerkannt, denn in der Kriegszeit bekam man nur mit einer Kleiderkarte Stoff“. Andere hatten es bei weitem nicht so gut, sie mussten sich mit abgetragenen Kleidern des Arbeitsgebers begnügen.

Offensichtlich hatte die Bergbauernfamilie Vogt nach Auffassung der Behörde die ihr zugeteilte Arbeitskraft zu human – nicht nach den strengen „Seperationsbestimmungen“ der Gestapo – behandelt.

Olga wurde nach einigen Monaten abgezogen. Fortan half sie in Altenstadt dem achtzigjährigen Gebhard Köchle und dessen Tochter Kathri bei der Führung der kleinen. Landwirtschaft. Olga wurde in Altenstadt gut aufgenommen. Olga schlief mit der Tochter des Bauern im selben Zimmer. Trotz des Verbotes war Olga mit Kathi, der Tochter des Bauern, wiederholt im Kino gewesen. Die Entlohnung war sehr bescheiden. Olga erhielt 12 RM, „das reichte für Briefpapier und Marken, sonst erhielt man sowieso nichts für das Geld“. Auch anderweitig scheint Olga gern gesehen worden zu sein. Jedenfalls heiratete sie 1947 einen Böckle und bekam drei Kinder.

Doch zuvor galt es noch ein großes Problem zu lösen: Ein Abkommen der vier alliierten Besatzungsmächte besagte, dass alle Deportierten wieder in die frühere Heimat zurück gebracht werden müssen. Besonders die Sowjets haben energisch darauf bestanden. Anfang Oktober 1945 wurden ein sowjetischer Major und ein Hauptmann nach Vorarlberg entsandt, um jene Staatsangehörigen ausfindig zu machen, die sich der Repatriierung entziehen wollten.

Durch Abänderung der Nationalität gelang es Olga der Deportation zu entgehen. Sie hielt sich während der ersten Transporte versteckt, denn sie hatte von Gerüchten gehört, die Ostarbeiter würden daheim wieder als Zwangsarbeiter eingesetzt. Als dann 1946 ein Verbergen nicht mehr möglich war, weil die Ausstellung von Lebensmittelkarten für Ausländer von einem Sichtvermerk der französischen Militärregierung auf dem Identitätsausweis abhing, änderte sie unter Mithilfe von galizischen Freunden ihren Heimatort von Hczeke in den galizischen (polnischen) Ort Hcezai um und gab an, ihren Identitäts-Ausweis verloren zu haben. Sie und einige andere Mädchen durften hierbleiben, zwei der Freundinnen seien später nach Amerika ausgewandert.
Olga Porchum, jetzt „Böckles Olga“, blieb also in Altenstadt, heiratete und bekam drei Kinder.

Obwohl sie nach 1945 im „Wirtschaftswunderland“ Vorarlberg blieb und sich eine Existenz aufbaute, sehnte sie sich ein Leben lang zurück nach ihrer ursprünglichen Heimat. Zu Ostern 1992 war es ihr vergönnt, in Hczeke ihr strohgedecktes Geburtshaus zu betreten und ihre Verwandtschaft wieder zu treffen:

„Niemand kann meine Tränen in meinem Heimweh nach meiner ukrainischen Heimat zählen. Heimat ist für mich nicht nur der Geburtsort, es ist der Platz, an dem ich geliebt wurde und wieder liebte; die herzensgute, selbstlose Mutter, die liebe Großmutter und der über alles geliebte Großvater. Heimat, das ist die Umgebung, in der ich aufwuchs, das Haus, der Stall, der Garten, der Brunnen vor dem Haus, der Bach, der See, die weiten Kornfelder, das Haus und die Brücke. Das alles ist meine Heimat, die mich formte und prägte“.

Olga Böckle verstarb am 12. Juli 2013 im Alter von 90 Jahren im Haus Klosterreben in Rankweil.
Ihre Kinder Robert, Maria, Luise und Pflegekind Lise trauern um eine großartige Mutter.


Auszüge aus »Um ihre Jugend betrogen  – Ukrainische Zwangsarbeiter/innen in Vorarlberg« von Margarethe Ruff
und »s’Böckles Olga« von Frau Martha Ludescher.